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Feldenkraisnow

„Ich bin frei“

a05Seit der Gründung durch die Schwester des damaligen jordanischen Königs Hussein im Jahre 1964 ist das Princess Basma Centre auf dem Ölberg in Ost-Jerusalem dank internationaler Unterstützung und privater Spenden zu dem geworden, was es heute ist: Ein außergewöhnliches medizinisches Zentrum und eine Bildungsinstitution, in der Muslime und Christen zusammenarbeiten; seit kurzem wird es von der Jerusalemer Stadtverwaltung anerkannt und finanziell mitgetragen. Heute beherbergt Armira Basma, wie das Zentrum von den Einheimischen genannt wird, eine Schule mit 540 (überwiegend nicht behinderten) Schülern, eine Sprachtherapie-Abteilung für siebzig hörgeschädigte Kinder und eine Poliklinik für Physiotherapie (auch für Erwachsene). Herz des Zentrums ist die Abteilung für stationäre kleine Patienten aus West Bank und Gaza (von wo 2006 nur ein einziges Kind kommen konnte — und das auch nur dank besonderer internationaler Hilfe). (1)

Die Direktorin des Zentrums, Betty Majaj, hatte sich bereit erklärt, mich drei Wochen dort zu beherbergen, um mir zu ermöglichen, ein bescheidenes empirisches Forschungsprojekt aufzubauen, in dem es sowohl um die Rolle der Feldenkrais-Methode in der Arbeit mit behinderten Kindern, als auch um die Effizienz des Einsatzes aufblasbarer Ballons in der Feldenkrais-Praxis geht.

Auf die erstaunlich wirkungsvollen und unendlich vielseitigen Möglichkeiten des Einsatzes aufblasbarer Ballons in der Feldenkrais-Praxis war ich zunächst dank besonderer Anforderungen gestoßen, die einige KlientenInnen an mich stellten, z.B. weil sie Angst vor Berührung hatten oder aus anderen Gründen extrem empfindlich waren. Dazu gehörte neben einer zierlichen alten Dame, die eine lange Reihe von Operationen hinter sich hatte (Wirbelsäule, Herz, Hüftgelenk), einem an schwerer Arthritis leidenden jüngeren Mann, einem krebskranken jungen Mädchen und anderen, auch ein hochintelligenter behinderter Junge (siehe: Wie William die Angst vorm Fallen überwand). Ein vor Jahren an Multipler Sklerose erkrankter, mit der Feldenkrais-Methode seit längerem vertrauter Anthropologe setzte sich tatkräftig für die Dokumentation der von ihm als überaus hilfreich empfundenen innovativen „Arbeit mit Luft" ein. (2)

Frau Majaj hatte meinen Vorschlag, drei Wochen als Volontärin bei ihr zu arbeiten, auch deshalb gerne angenommen, weil sie an der Weiterbildung ihrer überwiegend mit Voijta*- und Bobathmcthode* vertrauten Therapeutinnen interessiert war. Den meisten von ihnen ist Feldenkrais kein Begriff, obgleich Israel als Wiege der Feldenkrais-Methode gilt und dort über siebenhundert Feldenkrais-Lehrerlnnen arbeiten.

item10Wie sich sehr schnell herausstellte, war mein Beitrag Betty Majaj und ihrem Therapeutinnen Team ganz besonders willkommen, weil die von mir praktizierte Form somatischer Erziehung* hervorragend in das Konzept der eng zusammenarbeitenden Abteilungen für Spiel-, Physio- und Beschäftigungstherapie (der ich offiziell zugeteilt worden war) passte. Ihnen allen gemeinsam sind zwei Intentionen. Zum einen zeigen sie den kleinen Patienten Mittel und Wege, die ihnen ein im Rahmen ihrer Behinderung funktional optimales, sie selbst befriedigendes Leben zu führen erlauben. Zum anderen leiten sie gleichzeitig die Mütter im kreativen Umgang und Spiel mit ihren Kindern so an, dass diese dabei erfahren, wie sie Neugier und Lernfähigkeit ihres Kindes fördern und ihm allmählich zu größerer Unabhängigkeit verhelfen können. Für die jungen Frauen aus den immer hermetischer abgeriegelten und medizinisch sowie schulisch unterversorgten palästinensischen Territorien sind diese Ziele oft fremd und neu. Die 'Lernferien' im Amira Basma Centre sind für die jungen Mütter auch deshalb von unschätzbarem Wert, weil sie hier Gelegenheit haben, Erfahrungen auszutauschen, ihre Sorgen, Interessen, Hoffnungen und Wünsche zu besprechen und Freundschaften zu schließen, die sich nach der Rückkehr in ihre Heimatorte oft als Rettungsanker bewähren. Der tägliche Kontakt mit mehr oder weniger stark behinderten Angestellten (zwei Sekretärinnen, sowie mehreren Lehrern und Therapeuten) macht die jungen Frauen zusätzlich mit der Vorstellung vertraut, dass auch ihre Kinder eines Tages ein aktiv-erfülltes Leben führen könnten.

item11Der kleine Junge aus Qalquilia war das einzige der mir 'zugeteilten' Kinder und Babys, das eine ausreichende Anzahl von Fl-Stunden* erhielt, die eine unabweisbar deutliche Veränderung in seinem Leben bewirken konnten. Für wie lange die gute Wirkung bei Mahmoud anhalten wird, bleibt dahingestellt.

Der Knabe und seine Mutter Adeelah, deren Zeit am Zentrum schon ihrem Ende zuging, als ich sie kennen lernte, waren jedenfalls bereits nach unserer ersten FI-Begegnung von den erreichbaren Verbesserungen seiner körperlichen Fähigkeiten überzeugt — genau wie ich. Schon in dieser Stunde erwies sich das intelligente Kind geradezu prädestiniert für Feldenkrais-Lernen.

a10Mahmouds Lernerfolge — im Verlauf von insgesamt neun „Spiel-FIs", an jeweils vier aufeinander folgenden Tagen mit einer Woche Unterbrechung zwischen diesen zwei Blöcken — waren sicher auch der Tatsache zu verdanken, dass seine sensible Mutter sofort begriff, worum es beim Feldenkrais-Lernen geht. Entsprechend intelligent unterstützte sie ihr Kind — und damit auch mich. Als Mutter und Sohn nach einer Woche Abwesenheit plötzlich wieder da waren, erklärte mir Adeelah, dass sie in ihrem Schönheitssalon in Qalquilia eigentlich nicht länger abkömmlich sei. Sie halte schließlich mit ihrer Arbeit eine Großfamilie finanziell über Wasser. Sie sei trotzdem noch einmal nach Jerusalem gekommen, weil meine Vorgehensweise sich als genau das erwiesen habe, was ihr Sohn brauche.

Als ich Mahmoud zum ersten Mal sah, wurde er gerade von seiner Mutter im Rollstuhl in den Esssaal geschoben. Sein hübsches Gesicht trug den Ausdruck tieftrauriger Resignation, die mir sofort zu Herzen ging. Genauso sehr bewegte mich das Gefühl, welches ich empfand, als ich Mahmouds Hand nahm, während Adeelah mir ihren Sohn in gebrochenem Englisch vorstellte. Die Hand des Kleinen fühlte sich wie ein mit Wolle ausgestopfter Samthandschuh an. Der Junge war offensichtlich so schwach, dass seine Hände und Füße kaum mit seinem übrigen Körper verbunden schienen. Die attraktive junge Frau versuchte mir eindringlich klarzumachen, dass ihr Sohn wegen angeborener Muskeldystrophie* nicht ohne Rückenstütze sitzen, geschweige denn, ohne Hilfe auf eigenen Beinen stehen könne — genau wie seine zwei Jahre ältere Schwester. Auf die schockierende Frage, die mir dann von der zwischen düsterer Verzweiflung und zager Hoffnung schwankenden Mutter gestellt wurde, war ich in keiner Weise gefasst: „Meinen Sie, dass meine beiden Kinder schon vor ihrem zehnten Lebensjahr tot sind?"

Während sie in meinem Gesicht bange nach einem Zeichen forschte, dass ich diese schreckliche Diagnose zweier Spezialisten nicht teile, fiel mir nur ein zu sagen: „Ärzte sind keine Götter; ihre Voraussagen treffen nicht immer zu.“(3)

Anzumerken ist, dass Kinder mit angeborenem Muskelschwund sich zunächst u.U. ganz normal entwickeln, dann aber wegen zunehmender Schwäche nicht mehr das machen können, was sie eigentlich schon gelernt haben.

Mahmoud jedenfalls, der sprechen und greifen konnte, schien jede Kraft, selbst zum Kopfheben in Bauchlage, geschweige denn zum Stehen oder Gehen zu fehlen.

a14In seiner ersten Feldenkrais-Stunde wurde das Fundament für alle weiteren gelegt: Adeelah übernahm wie selbstverständlich die Rolle einer einfühlsamen Assistentin und Dolmetscherin. Mit mir unverständlichen arabischen Worten feuerte sie ihren Sohn immer wieder dazu an, etwas ihm völlig Neues auszuprobieren und auch eigene Ideen in dem sich anbahnenden, weitgehend selbstgesteuerten Lernprozess zu entwickeln. Mir brachte Adeelah gleich zwei arabische Worte bei, die sich auch in der Arbeit mit anderen Kindern als äußerst wertvoll erweisen sollten: „Hassan" (Pferd) und noch wichtiger „Idfa!" (Drücke/Schiebe/Stoße!). Der vor mir auf einem ovalen, leicht nachgebenden Ballon sitzende Junge (im Rücken strategisch mit einem kleinen, nicht ganz voll aufgeblasenen „Overball" unterstützt) versetzte sich sofort in die Rolle eines Reiters. Das war sowohl seinem Spieltrieb wie seinem bewegungshungrigen Nervensystem zu verdanken, andererseits aber auch seiner vor ihm hockenden Mutter, die ihm begeistert „Hassan! Hassan!" zurief.

Die Übereinstimmung zwischen uns mündete sehr bald in eine kontinuierlich harmonischer werdende Kooperation: Mutter, Kind und Feldenkrais-Lehrerin wurden in gewisser Weise zu gleichberechtigten Partnern (4) in einem faszinierenden, zunächst absolut offenen Prozess somatischen Lernens. Einmal half ich Mahmoud, der in Bauchlage quer über zwei ovalen Ballons lag, sich mit Händen und Vorderarmen auf dem Boden abzustützen und dann ein kleines Stück vorwärts zu robben. Daraufhin rollte Adeelah ihm sofort einen kleinen blauen Ball auf dem Boden entgegen, um Mahmoud damit zu locken, noch ein bisschen weiter zu kommen. Dabei begann das Kind ganz spontan seinen vorher schwer herabhängenden Kopf, der ihm sonst bei der Vorwärtsbewegung zum Hindernis geworden wäre, ein klein wenig zu heben. Der sich dabei ergebende Einfall, den Ball wie ein Fußballer mit dem Kopf zu 'kicken', kam dem Jungen von ganz alleine. Seine Mutter reagierte darauf mit einer entsprechend unterstützenden Geste: sie hielt den Ball nun einfach etwas höher. Ich war glücklich zu sehen, wie Mahmouds gesamte Wirbelsäule 'wach wurde' und sich 'organisch' zu bewegen begann. Mir war inzwischen aus langjähriger Erfahrung bekannt, dass dies u.a. einem höchst subtilen Feedbackmechanismus* zu verdanken war, welcher durch den gleichmäßigen Körperkontakt des Lernenden mit der sanft nachgebenden, rollenden Unterlage ausgelöst wird. Der zerbrechlich wirkende Hals des Kindes schien auf einmal entlastet und sein Kopf zusehends leichter. Als ich Mahmoud auf seinem beweglichen Untersatz etwas nach vorne rollte — ich hielt ihn dabei an den Beinen — war er begeistert. Jetzt konnte er den Ball noch besser mit dem Kopf kicken. Die ganz neue Erfahrung der Integrität seiner Wirbelsäule ließ sich noch etwas verstärken, als wir den kleinen runden Ball durch einen größeren ovalen Egg-Ball ersetzten. Dieser konnte von Mahmoud nur mit etwas größerem Kraftaufwand bewegt werden, denn seine Mutter hielt ihn ganz leicht auf der Stelle fest. So spürte ihr Sohn, bevor sich der Ballon zu bewegen begann, dessen sanften Widerstand und gleichzeitig das leichte 'Nachgeben' der Stelle, die er mit seiner Schädeldecke berührte.

In FIs* machen wir ähnliche Erfahrungen, wenn wir durch Haut und darunter liegendem Gewebe hindurch schließlich klar-festen Kontakt mit dem Skelett unseres Schülers/Klienten aufnehmen. Mit Hilfe der sanft auf Druck reagierenden Bälle konnte ich einigen Müttern und Therapeutinnen eine andere, feinfühligere Art der Berührung nahe bringen, eine Berührung, die die Feldenkrais-Methode besonders auszeichnet. Auch im Amira Basma Centre konnte ich nämlich immer wieder beobachten, wie schnell und völlig unbewusst gestresste Mütter — und auch Therapeutinnen — mal kräftig zugreifen, um einem Kind handfest ,begreiflich' zu machen, was von ihm erwartet oder verlangt wird. Harte, rein manipulative Hände verhindern jedoch die subtile Kommunikation zwischen den Nervensystemen des so angefassten Kindes und der hilfreich sein wollenden Bezugsperson. Der oft wie ein Wunder erlebte Erfolg der Feldenkrais-Methode ist dagegen genau dieser fein spürenden und oft wortlosen Verständigung zu verdanken.

a08Die Erfahrung von Stärke und Beweglichkeit der Wirbelsäule wurde für Mahmoud durch das Erlebnis der verlässlichen Stabilität des gesamten Knochengerüsts ergänzt und untermauert. Das ließ sich folgendermaßen bewerkstelligen; Diesmal wurde das Gewicht von Mahmouds Oberkörper und Becken von einem einzigen ovalen Ballon getragen, auf dem das Kind der Länge nach auf dem Bauch lag. Seine Knie und Füße berührten dabei genauso deutlich den Boden wie seine Ellenbogen, Unterarme und Handflächen. Die Solidität der Skelettstruktur wurde in den folgenden Fl-Stunden durch leichtes Rollen des Ballons gelegentlich auf die Probe gestellt und dabei von Mahmoud als immer verlässlicher erlebt. Beim Rollen nach rechts übernahm die rechte Seite Stützfunktion, beim Rollen nach links übernahmen linkes Bein und linker Arm tragende Funktion — und das zunächst ohne jede Muskelanstrengung. Dem kleinen Jungen machten solche Spiele immer großen Spaß. Er entwickelte dabei offensichtlich ein klareres Gespür für sein Knochengerüst in Beziehung zur Schwerkraft und zum Boden.

Kurz zuvor hatte ich Mahmoud in einer Gruppe von Müttern und Kindern in der Abteilung für Spieltherapie beobachten können. Ohne Hilfe von außen hatte der auf dem Boden sitzende, von seiner Mutter gestützte Junge wie ein ziemlich hilfloses Bündel unkoordinierter, von viel zu schwachen Muskeln kaum zu bewegender Gliedmaßen gewirkt. Jetzt war er auf einmal wie ausgewechselt und offensichtlich in der Lage, seine Bewegungen wenigstens ansatzweise selbst zu steuern.

Zum Ausruhen bequem rücklings auf den Bällen liegend, wurde Mahmoud zum Fußballer. Er gab seiner Mutter zu verstehen, dass er den weichen blauen Ball mit dem Fuß in die Luft kicken wollte. Adeelah ließ den Ball — aus allmählich wachsender Höhe — zunächst wiederholt auf seinen rechten Fuß fallen; dann aber auch auf den viel weniger 'intelligenten' linken. Das linke Fußgelenk war nach Mahmouds Geburt operiert worden, um seine 'Sichelfußhaltung'* zu beheben. Das Kind hatte jedoch nie gelernt, sich auf diesen Fuß zu verlassen. Dazu hätten wohl auch die Nervenenden in der Fußsohle entsprechend angeregt werden müssen. Mahmoud war unersättlich bei dem von ihm erfundenen Fußballspiel, zumal ihm sogar mit links ein paar 'gute Schüsse' glückten. Und dann hatte meine wunderbare palästinensische Assistentin den genialen Einfall, ihren Sohn zu animieren, den von ihr leicht gegen die rechte und dann auch die linke Fußsohle gedrückten Ball in ihre Hände zurück zu stoßen: „Idfa! Idfa!" feuerte sie ihn immer wieder an.

a07Der sich dabei auftuenden neuen Dimension unserer 'somatischen Lernspiele' war die nächste Stunde gewidmet, die übrigens von dem Kind selbst organisiert worden war. Mahmoud hatte bei seinem Erscheinen in der Physiotherapieabteilung höchst emphatisch erklärt, er würde am liebsten wieder mit der 'neuen' Frau arbeiten. Die Krankengymnastinnen waren neugierig, willigten ein und beobachteten dann aus den Augenwinkeln, was ich mit ihrem kleinen Patienten anstellte. Mir ging es in dieser Stunde vor allem um Erkundung einer von den Fußsohlen ausgehenden Vorwärtsbewegung. Dabei stellte ich fest, dass Mahmouds linker Fuß nur dann eine stabile, nach vorne gerichtete Haltung bewahrte, wenn er den subtil auf seinen Druck antwortenden Gegendruck eines korrekt aufgeblasenen Ballons zu spüren bekam. Fußboden und Wand, ja selbst meine Schulter oder Rippen schienen zu hart und lösten unausweichlich das gewohnte dystunktionale Muster* aus, d.h. der Fuß begann sich plötzlich nach innen zu verdrehen.

Wilkommen

Diese Fallstudie von Ilana Nevill ist in der von Uta Ruge und Sylvia Weise herausgegeben Sammlung Zuerst bin ich im Kopf gegangen & andere Feldenkrais-Geschichten erschienen (von Loeper Literaturverlag, 2007)

a03Der sechsjährige Mahmoud aus Qalquilia war einer der ersten kleinen Palästinenser, die mir Anfang 2006 im Princess Basma Centre für behinderte Kinder begegneten. Die weiter unten beschriebene wahrhaft spektakuläre 'Verwandlung' dieses Jungen steht hier beispielhaft für das, was sich mit Hilfe der Feldenkrais-Methode im Rahmen einer kompetent konventionellen Rehabilitations-Arbeit leistenden Institution erreichen lässt.

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Wie in unserer ersten Stunde hatte Mahmoud natürlich auch eigene Spielideen; z.B. wollte er auf einmal Basketball-Spieler sein. Adeelah musste sich hinter ihren Sohn vor ein an der Wand befestigtes Basketballnetz setzen, um ihn von hinten zu stützen, während der Junge immer wieder mit einem 'richtigen' Basketball in das Netz zielte. Dabei bewegte er sich genau wie er es in Fernsehübertragungen berühmter Wettkämpfe gesehen hatte und zeigte erstaunliche Geschicklichkeit beim Recken und Strecken. Dass Adeelah sehr bald einen der runden Bälle zwischen ihr Brustbein und Mahmouds Rücken klemmte, um ihn mit gezieltem Druck zu unterstützen, freute mich besonders. Dadurch wurden die Aufwärtsbewegungen der Arme ihres Sohnes zusehends kräftiger und seine Würfe erfolgreicher. Ich hatte noch nie erlebt, dass jemand, der als absoluter 'Feldenkrais-Laie' gelten muss, ganz spontan und auf äußerst kluge Weise wesentliche Prinzipien unserer Methode zur Anwendung bringen kann. Aber ich bemerkte, dass auch andere Mütter und mehrere Therapeutinnen mit größter Selbstverständlichkeit Ideen übernahmen, die sie in Mahmouds Stunden und denen anderer Kinder und Babys bei mir gesehen hatten.

a09Das Vorhaben, welches Mahmoud nach dem Basketballspiel plötzlich in den Sinn kam, stellte einiges in den Schatten, was mir in zwanzig Jahren Feldenkrais-Praxis begegnet ist. Der Junge mit den 'samtenen' Händen und Füßen zog sich auf einmal an einem hölzernen Gestell mit Geländer und fünf aufsteigenden und an der anderen Seite wieder herunterführenden Treppenstufen hoch und stand plötzlich auf eigenen Füßen. Dann begann er, sich immer schön daran festhaltend, mit kleinen seitwärts gerichteten Schritten um das Gestell herumzugehen - ohne fremde Hilfe. Adeelah strahlte, als sie mir seinen triumphierenden Ausruf übersetzte: „Ich bin frei!"

Das nächste Unternehmen war vielleicht noch eindrucksvoller. Adeelah musste eine kleine Leiter holen, sie unter eines der hohen Fenster stellen und dort festhalten, während Mahmoud hinaufkletterte, um aus dem Fenster zu schauen. Beim ersten Versuch gelang ihm das nicht ganz. Mir war schleierhaft, woher das schwache Kind plötzlich die Kraft nahm, um es gleich darauf noch einmal zu versuchen — dieses Mal mit Erfolg. Ich war natürlich auf dem Sprung, ihn aufzufangen, falls seine Kräfte auf einmal versagen sollten. Beim Heruntersteigen, drehte sich der Junge um und erklärte stolz: "Ich bin ein Mann, der eine Mauer baut!" (Die Worte des kleinen Helden gingen mir ganz sonderlich zu Herzen. Denn die noch spürbare Euphorie über den Ausgang der demokratischen Wahl - Ablösung der allgemein als ziemlich korrupt angesehenen Fata-Regierung durch die von der westlichen Welt als Terror-Organisation disqualifizierten Hamas Partei -, war bereits dabei, in Verzweiflung über die sofort einsetzenden, zunehmend schärfer werdenden israelischen Sanktionen umzuschlagen.)

ladderAngesichts der zunehmend verzweifelter werdenden Situation der Palästinenser, die sich bei einer demokratischen Wahl gegen Fata und für Hamas entschieden hatten, was jedoch weder von Israel noch von der westlichen Welt akzeptiert wurde, gingen mir die Feststellungen des kleinen Helden ganz sonderlich zu Herzen).

In den folgenden Feldcnkrais-Stunden konzentrierten wir uns auf die Mobilisierung des Beckens und Entspannung der Kniesehnen. Mahmoud lernte, seine Beine allmählich etwas mehr zu strecken und seinen ganzen Körper eindeutiger darüber aufzurichten. Bei dieser Aulgabe kam uns das Wasser zu Hilfe. Drei Mal wurde uns erlaubt, das Schwimmbecken zu benutzen. Es steht den kleinen Patienten einmal pro Woche zur Verfügung. Die halbe Stunde, in der sie sich dort mit allen abkömmlichen Krankenschwestern und Therapeutinnen amüsieren, ist für sie ein besonderer Höhepunkt. Im allgemeinen Lärmen und Planschen hatte Mahmoud seine Angst vor Wasser allerdings nicht ablegen können. Doch als er das Becken ganz für sich alleine hatte,a17 begann er, das warme Wasser zu genießen. Mit etwas gutem Zureden von Seiten seiner Mutter und ausreichender Unterstützung meinerseits hangelte sich der kleine Mann bald eifrig an der Wand entlang und durchquerte schließlich das Becken am seichteren Ende, ohne sich an meinen Händen festzuhalten. Selbst die Unterstützung durch den Schwimmring unter den Achselhöhlen brauchte und wollte er am Ende nicht mehr. Nachdem sich Mahmoud aller äußeren Hilfsmittel entledigt hatte, ging er mit weit ausgebreiteten Armen auf und ab hüpfend im Becken hin und her und war kaum aus dem Wasser zu kriegen: „Ich bin nicht müde!" sagte er immer wieder.

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Unsere letzte Stunde im Wasser brachte die Krönung: Mahmoud entdeckte auf einmal, welchen Spaß es macht, sich mit beiden Füßen immer wieder von der Wand abzustoßen. Bald gelang es ihm, sich jedes Mal ohne die geringste Angst auf dem Rücken in meine Arme treiben zu lassen. Zum Abschluss folgte eine richtige Wasserschlacht, wobei der Junge — nun überhaupt nicht mehr von sogenannten 'normalen' Kindern zu unterscheiden — wiederholt untertauchte, um dann lachend wieder an der Oberfläche zu erscheinen. Er hatte herausgefunden, wie er — sich jedes Mal vom Boden des Pools abstoßend — seinen Körper aus dem Wasser heraus katapultieren konnte.

Am Tag ihrer Abreise bat mich Adeelah um einen der kleinen Bälle, die ich aus England mitgebracht hatte, sowie ein paar 'Benutzungstipps' für zu Hause - und als 'aide memoire' entsprechende Skizzen, die sie in meinem Notizbuch gesehen hatte. Während ich kurz mit Adeelah arbeitete, um sie ein paar besonders wichtige Anwendungsmöglichkeiten des Balls für Spiele mit Mahmoud spüren zu lassen und ihr gleichzeitig zu zeigen, wie sie mit kleinen Bewegungen ihre verkrampften Schultern, Nacken, Rücken, und Becken etwas entspannen könnte, amüsierte sich ihr Sohn ganz alleine. Zuerst stieg er ein, zwei Mal die bereits erwähnte Treppe hinauf und hinab, wobei er sich rechts und links am Geländer festhielt. Etwas später lehnte er mit beiden Armen auf einem Hocker mit Rädern und bewegte sich mit wachsender Geschwindigkeit durch den Raum. Seinen linken Fuß hatte er auf einen horizontalen Steg gestellt; mit dem rechten stieß er sich geschickt und kraftvoll vom Fußboden ab. Dann kam er auf eine neue Idee, die mich und Adeelah veranlasste, unsere Arbeit zu unterbrechen, um den ihren Sohn aus der Entfernung zu beobachten. Wir hatten beide das Gefühl, das von Mahmoud gerade begonnene Experiment könne für ihn vielleicht doch zu gefährlich werden, und waren daher auf dem Sprung, einen möglichen Unfall zu verhindern: Mahmoud hatte in einer Ecke ein paar Krücken gefunden und war dabei, sie auszuprobieren, obgleich sie für ihn viel zu lang waren. Nun kämpfte er wacker und erstaunlich geschickt mit den sich daraus ergebenden Schwierigkeiten. Er hatte ja schon andere beim Lernen des Umgangs mit Krücken beobachtet (und war vielleicht ein paar Mal selber darin angeleitet worden). Ein gehbehindertes junges Mädchen, das den Jungen ebenfalls beobachtete, griff schließlich hilfreich ein und brachte ihm seiner Größe eher entsprechendes Paar. Damit ging es natürlich viel besser, und Mahmoud schien mit seinem Fortschritt sehr zufrieden. Jetzt stand der Junge voll aufgerichtet und viel sicherer auf eigenen Füßen, machte ein paar Schritte und strahlte.

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PicturesGast112

Dieses Bild wird mir in lebhafter Erinnerung bleiben, auch wenn ich mich gelegentlich etwas verzagt frage, welche somatischen Lernerfahrungen und -erfolge Mahmoud und seine Mutter wohl in den Alltag in Qualquilia integriert haben. Denn nun arbeitet Adeelah wahrscheinlich wieder den ganzen Tag in ihrem Salon, während Mahmoud mit seiner Schwester von einer Verwandten versorgt wird. Angesichts der sich in Palästina/Israel weiterhin zuspitzenden politischen Situation mit ihren verheerenden Auswirkungen können Mütter und Kinder wie Adeelah und Mahmoud sich womöglich nur mit Sehnsucht an die Oase von Harmonie und Geborgenheit erinnern, die das Amira Basma Centre ihnen eine Zeitlang bedeutet hat.

Mir wurde von verschiedenen Mitarbeiterinnen des Zentrums versichert, dass erstaunliche Entwicklungen, wie die von Mahmoud dort in keine Seltenheit sind. Was die Amira Basma-Therapeutinnen allerdings nicht nur im Fall des Jungen aus Qualquilia wirklich interessierte und gelegentlich auch in der eigenen Arbeit inspirierte, war das spielerische „Wie" des Feldenkrais-Ansatzcs. Ihnen fiel bald auf, dass dieser Ansatz bei den kleinen Patienten durchweg positive Reaktionen hervorrief, die vom still lächelnden In-sich-Hineinhören bis zum jauchzenden Mitmachen reichten.

Ihrer Ausbildung und ihrem Auftrag gemäß ging es meinen palästinensischen ,Kolleginnen' darum, möglichst messbare Resultate bei der Förderung der körperlich-geistigen Fähigkeiten ihrer Patienten zu erzielen. Mir dagegen ging es primär um einzelne kleine Menschen und deren Erleben der Welt, in der sie sich zurechtzufinden versuchen. Grundvoraussetzung dazu ist die Entwicklung eines — selbst aus kleinsten Lernerfolgen erwachsenden — positiven Selbstbildes, demzufolge alles Möglich-Unmögliche erst einmal ausprobiert wird, statt gleich als unerreichbar abgetan zu werden. Bei einer solch anspruchsvollen Zielsetzung war mir ganz besonders darum zu tun, jedem Kind Gelegenheit zu weitgehend selbstgesteuertem Lernen zu geben. Solches Lernen ist prinzipiell nicht auf konventionell vorgegebene Ziele beschränkt, sondern bleibt offen — vor allem für Überraschungen, d.h. für Dinge, die eine therapeutische ,Fachkraft' kaum erwartet und das ,behandelte' Kind sich daher auch kaum zutraut. Wieweit die Feldenkrais-Methode hinsichtlich solcher Überraschungen über das hinausgeht, was mit Bobath-, Voijta- und ähnlichen Rehabilitationstechniken zu erreichen ist, erahnten ein paar meiner palästinensischen Kolleginnen bereits beim Beobachten des ungewohnten Verhaltens ihnen besonders vertrauter Kinder. Deren oft unerwartet fröhlicher ,Einstieg' in spielerisches Feldenkrais-Lernen gab ihnen selbst Lust, die von mir vertretene Methode auch einmal am eigenen Leibe zu erfahren, zumal sie alle unter den verschiedensten körperlichen Folgen von Stress litten. Wie wunderbar eine kleine Fl ist, sprach sich sehr bald in Amira Basma herum. So kam es, dass ich schließlich auch mit dem medizinischen Direktor, der Leiterin Betty Majaj, verschiedenen Mitgliedern des Verwaltungsstabs, ja selbst mit der Putzfrau arbeitete. Kein Wunder, dass ich eingeladen wurde, möglichst bald — und möglichst auch für länger — wiederzukommen.

a04Anfang 2007 arbeitete ich dort fünf Wochen lang weiter an dem mich seit nunmehr zwölf Jahren beschäftigenden Projekt "Luft als Brücke in der Kommunikation mit dem Nervensystem".

Bei einem Wochenend-Besuch in Qualquilia hatte ich Gelegenheit, ein paar Feldenkrais-Spiele mit Mahmoud zu machen und Adeelah und einer ihrer Schwestern eine kleine Einzelstunde geben, die ihnen wie eine Insel des Friedens in einem Meer von Unsicherheit und Angst vorkam.

1 In ihren Schlafsälen können bis zu zwanzig Kinder (von 0 bis zu 15 Jahren) mit ihren Müttern untergebracht werden. Wie lange sie bleiben, hängt von persönlichen Umständen der betroffenen Familien, ärztlicher Entscheidung und zunehmend von der politischen Lage ab. Abends, wenn nur noch die diensthabende Krankenschwester und die freundliche Hausmeisterin anwesend sind, nehmen die jungen Mütter ihre Kopftücher ab und machen es sich gemütlich. Ab zehn Uhr abends ist die Eingangstür verriegelt, die Kinder schlafen, und die Mütter sitzen beisammen, klönen, tauschen Erfahrungen aus, sehen fern, und machen gelegentlich auch einmal kleine Partys mit Musik und Naschereien.

2 Ich hoffe, das auf Initiave dieses Klienten 2001 erschienene Video/DVD ,Supported by Air' demnächst durch eine pädagogisch genauer durchdachte DVD ergänzen bzw. ersetzen zu können. Dabei sollen dann auch all die Entdeckungen und Entwicklungen berücksichtigt werden, die in den letzten Jahren dazugekommen sind - unter anderem auch in verschiedenen Workshops für Feldenkrais-KollegenInnen (USA, England, Deutschland, Frankreich, Schweiz), die viele neue Impulse und ermutigend positives Feedback brachten. Zu drei im Rahmen der IFF-Academy veranstalteten Fortbildungsseminaren und deren Auswertung siehe: http://feldenkrais-method.org/en/node/. Mein israelischer Kollege Eli Wadler, der ebenfalls seit vielen Jahren vor allem mit Egg-Balls arbeitet, ist hinsichtlich der Effektivität der „Arbeit mit Luft" zu ähnlichen Ergebnissen gekommen wie ich. Ein Vergleich der relevanten Website-Informationen wird zeigen, wie verschieden man mit diesen sanften Lernhilfen umgehen kann (siehe: www.feldenkraisnow.org unter „Feldenkrais on Air“, wo auch der von mir entwickelte „Air Table" vorgestellt wird). Zur Information über Eli Wadlers Arbeit siehe: www.feldenkrais-wadler.com

3 Nach dem Besuch bei einem israelischen Freund und Kollegen mehrere Wochen später hätte ich Adeelah von einem mit dem gleichen genetisch bedingten Leiden geschlagenen Eeldenkrais-Schüler berichten können, dem die Ärzte ,höchstens acht bis zehn Jahre' gegeben hatten. Dieser Mann ist inzwischen Mitte fünfzig und betrachtet sein Leben weiterhin als lebenswert, auch wenn er sehr eingeschränkt ist.

4 Gelegentlich allerdings, wenn Mutter und Sohn auf Arabisch intensiv miteinander verhandelten, welche Idee als nächste erprobt werden solle, blieb ich kurzfristig aus geschlossen.

Glossar (Zuerst bin ich im Kopf gegangen , S. 229 ff)

Bobath: Das Bobath-Konzept ist ein rehabilitativer Ansatz in der Pflege und Therapie von Patienten mit Schädigungen des Gehirns oder des Rückenmarks. Benannt ist es nach ihren Entwicklern Berta Bobath (1907-1991) und ihrem Ehemann Karel Bobath (1906-1991). Es beruht auf der Annahme der “Umorganisationsfähigkeit”des Gehirns, das heißt, dass gesunde Hirnregionen Aufgaben, die zuvor von den erkrankten Regionen ausgeführt wurden, neu lernen und übernehmen können.

dysfunktionale Muster: (Bewegungs)-Muster, die in ihrer Funktionalität gestört sind.

Feedback: Rückkopplung

Funktionale Integration (FI), FI-Stunde: Einzelstunde in der Feldenkrais Mathode

Muskeldystrophie: eine Sammelbezeichnung für primär degenerative Muskelerkrankung. Kennzeichen der Muskeldystrophie ist eine fortschreitende, meist symmetrisch ausgebildete Muskelschwäche;

Sichelfuß: eine angeborene oder auch erworbene Fehlstellung des Fußes. Diese Fehlstellung tritt oft auch beidseitig auf. Es handelt sich um eine verstärkte Wölbung des Mittelfußes und der Zehen nach innen (Adduktionsstellung).

Somatisch (-e Erziehung, somatisches Lernen): Lernen mit dem Leib (soma).

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